Schuld und Vergebung ?

Vergebung

Kaum etwas macht Menschen so schwach und klein, wie ein Schuldgefühl oder (vermeintliches) Schuldigsein. Hierbei hat das eigene innere Schuldgefühl eine viel größere zerstörerische Kraft als eine Schuldzuweisung von außen. Ein tiefsitzendes Schuldgefühl bindet unsere Lebenskraft, raubt uns Lebensfreude und schränkt unsere Freiheit ein.

Wie können wir dieses Schuldgefühl „loswerden“? Was kann dieses Sich-schuldig-Fühlen transformieren und heilen? Wie können wir zu innerer Freiheit, Ruhe, Selbstannahme und innerem Frieden (zurück) finden?

Weit verbreitet ist der Ansatz, dass der Weg aus der Schuld über die Vergebung führt.

Vergeben und Verzeihen ist ein Verzicht auf Schuldzuweisung und ein Verzicht auf Ausgleich nach erlittenem Unrecht oder Verletzung.
Während Verzeihen sich vorwiegend auf die alltägliche soziale Ebene bezieht, geht es bei der Vergebung meist um große, schwerwiegende und existentielle Ereignisse.

Die Bereiche der Vergebung sind vielfältig, sei es im zwischenmenschlichen, therapeutischen oder religiösen Bereich. Und in allen Bereichen geht es darum, den Schuldigen und/oder den Geschädigten zu entlasten und zu befreien, um ihm eine Rückkehr zum inneren Frieden zu ermöglichen.
Eigentlich eine guter Ansatz, eine gute Absicht.

Aber es gibt einen Schattenaspekt der Vergebung, den wir meist übersehen. Denn das Wort Vergebung leuchtet so verlockend hell, wer mag sich da dem Schatten zuwenden?

Der Schatten der Vergebung ist das Schuldgefühl bzw. das (vermeintliche) Schuldig-Sein.
Vergebung impliziert immer ein vorangegangenes Falsch- oder Schuldigsein.
Ohne Schuld keine Vergebung.

Warum das relevant ist, zeigt sich, wenn wir uns die verschiedenen Bereiche der Vergebung genauer anschauen.

Die Selbstvergebung beginnt meist mit dem Satz mit „Ich vergebe mir“, oft gefolgt vom Benennen dessen, was ich mir selbst vergeben möchte. In der Selbstvergebung ist immer enthalten, dass ich davon ausgehe, dass ich schuldig bin, etwas Unrechtes getan oder falsch gemacht habe oder in irgendeiner Weise nicht richtig bin. Würde ich mich nicht schuldig fühlen, bräuchte ich mir nichts zu vergeben. Ohne Schuld keine Vergebung. Genau das ist der Schatten oder der wunde Punkt oder die Frage: Bin oder war ich wirklich schuldig? Dazu später mehr.

Auch in der christlichen Religion wird bei der Vergebung vom grundsätzlichen Sündig-/Schuldigsein ausgegangen. Im Vater-Unser-Gebet heißt es ganz konkret: “[…] und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern […]“. Auch hier geht es um Schuld: Schuld der Anderen, denen wir zu vergeben geloben und Schuld bei uns, um deren Vergebung wir Gott bitten.

Bei der Vergebung gegenüber anderen Personen im zwischenmenschlichen Bereich wird die Bedeutung des Themas Schuld noch deutlicher. Zwar soll auch hier die Vergebung dem inneren Frieden dienen, indem der Vergebende sich aus der Opferrolle befreit und durch den Verzicht auf Ausgleich eine Art Schlussstrich zieht. Aber auch hier schwingt im Vergeben eine tatsächliche, gefühlte oder vermutete Schuld (und Unschuld) mit. Derjenige, der vergibt, erscheint in dieser Sache unschuldig(er). Der, dem vergeben wird, erscheint schuldig(er).

Während bei der „Tat“ das „Opfer“ schwächer oder kleiner wirkt als der „Täter“, dreht sich dieses Verhältnis bei der Vergebung um. In dem Satz „ich vergebe dir“ schwingt Größe und Macht mit. Dadurch erhebt sich das bisherige Opfer und wird größer, der bisherige Täter wird kleiner.

Wenn diese Größenveränderung zu einem Ausgleich führen würde, wodurch sich beide auf gleicher Augenhöhe begegnen könnten, wäre das ein guter Weg.
Man könnte meinen, dass sich durch das neue Ungleichgewicht das vorherige Ungleichgewicht aufhebt. Aber ist das wirklich so?
In den meisten Fällen scheint der Vergebende (moralisch und energetisch) größer zu werden als derjenige, dem vergeben wird. In diesem Fall wird durch die Vergebung das vorherige Ungleichgewicht durch ein entgegengesetztes neues Ungleichgewicht abgelöst. So sind die Beteiligten weder bei der Tat noch bei der Vergebung auf gleicher Augenhöhe.

Welche ungewollten und ungeahnten Aspekte bei der Vergebung mitschwingen, zeigt sich noch deutlicher, wenn der Eine den Anderen um Vergebung bittet: „Bitte vergib mir.“ Was passiert bei diesem Satz? Was als reuevolle Erklärung gemeint und verstanden sein kann, hat noch eine weitere Ebene. Der Bittende möchte Erleichterung, Absolution oder Frieden durch sein Gegenüber erhalten, von ihm. Der Bittende liefert sich bewusst aus und legt die Entscheidung und den nächsten Schritt in die Hände des Anderen. Die Bitte enthält die deutliche Aufforderung „vergib mir“ und erhofft eine wohlwollende Antwort. Wenn ich Täter bin, fühle ich mich meist schuldig und warte unbewusst auf einen Ausgleich, um von dieser Schuld erlöst zu werden. Die Vergebung scheint der Schlüssel zu sein.

Wird auf die Bitte um Vergebung nicht geantwortet oder wird der Bitte nicht entsprochen, bleibt der Bittende in der Hoffnung und in der Warteposition gefangen, mitunter viele Jahre, Jahrzehnte oder noch darüber hinaus.
Wird aber der Bitte um Vergebung entsprochen, steht der Bittende oft innerlich und äußerlich moralisch unter Druck, dem Vergebenden dankbar zu sein für die Vergebung. So wird der Wunsch nach Vergebung eingetauscht gegen eine moralische Verpflichtung zur Dankbarkeit.

Unabhängig davon, ob die Vergebung gewährt wird oder nicht, unterwirft sich der Bittende dem Anderen, macht sich von dessen Reaktion abhängig und bleibt innerlich an ihn gebunden.

Und wie geht es dem, der um Vergebung gebeten wird? Im Allgemeinen setzt die Bitte um Vergebung auch ihn unter Druck, denn er wird durch die Bitte aufgefordert, etwas zu entscheiden und etwas zu tun oder nicht zu tun. Hat er wirklich die freie Wahl, wie er auf die Bitte reagiert? Meist schwingt (moralisch) von außen oder auch innen die latente Erwartung mit, der Bitte um Vergebung zu entsprechen, also zu vergeben. Schon die „Möglichkeit der Vergebung“ kann ein neuer Druck sein: „Will ich vergeben? Warum kann ich (noch) nicht vergeben? Wann wird es so weit sein? Kann ich es je? Habe ich eigentlich auch das Recht, nicht zu vergeben? Müsste ich nicht? Und was ermächtigt mich überhaupt, dem Anderen zu vergeben?“ Die innere oder äußere Erwartung der Vergebung oder Möglichkeit der Vergebung lässt denjenigen ebenfalls unfrei sein und bestärkt durch das innere Gefühl der Verpflichtung die Bindung an den Anderen.

Meist ist es das „Opfer“, das dem „Täter“ vergibt, vergeben soll oder um Vergebung gebeten wird. Heißt das, im Opfersein ist automatisch die Macht, die Möglichkeit, die Fähigkeit und das Recht enthalten, dem Täter zu vergeben?

Wenn die Vergebung im zwischenmenschlichen Kontakt so problematisch ist, ist es vielleicht besser, sie nur in mir und für mich persönlich zu nutzen. Als Opfer könnte ich in der Stille dem Täter vergeben. Ohne sein Wissen, ohne seine Bitte, ohne sein Beisein, ohne sein Zutun.

Vergebungssätze haben eine große Kraft und Macht, auch wenn ich sie „nur im stillen Kämmerlein“ verwende. Doch diese Macht wirkt oft ganz anders, als zunächst vermutet. Wie fühle ich mich, wenn ich an den Anderen denke und dabei ganz für mich den Satz „ich vergebe dir“ sage oder denke? Schwingt da ein winzig kleiner Hauch Erhabenheit, Großmütigkeit oder Großzügigkeit mit? Bin ich stolz auf mich, wie gut ich das mache?
Auch bei der innerlichen Vergebung kann es passieren, dass ich mich – im Verborgenen und scheinbar unbemerkt – über den Täter erhebe.

Das Mitschwingen einer Überhöhung ist sehr häufig wahrnehmbar, wenn jemand, scheinbar abgeklärt und ruhig erzählt oder erwähnt „ich habe dir/ihm/ihr vergeben.“ Schon im Erwähnen dieser sehr persönlichen Handlung liegt oft ein unbewusstes „schau, wie weit, weise und liebevoll ich bin.“

Könnte ich dann bei Bedarf nicht zumindest mir selbst vergeben? Hierbei ist die Gefahr der Überhöhung ja nicht gegeben, oder? Das stimmt, aber auch hier ist die (vermutete oder vermeintliche) vorangegangene Schuld wieder mit im Spiel. Um überhaupt auf die Idee zu kommen, mir selbst zu vergeben, scheine ich mich für irgendetwas schuldig zu fühlen. Ich bekenne mich also zunächst für schuldig, um mir dann vergeben zu können. Ich mache mich zunächst klein, um mich dann zu erhöhen und mir zu vergeben.

Trotz dieser Schatten und Stolpersteine ist die Versuchung groß, zu glauben, dass Vergebung ein notwendiger Schritt auf dem Weg der Heilung ist. Manchmal soll die Vergebung sogar wie eine Abkürzung genutzt werden, um unangenehme und schmerzhafte Phasen der eigenen inneren Heilung auszulassen. Sowohl auf der „Opfer-“ als auch auf der „Täter“-Seite.

Doch Heilung, Transformation und Freiheit findet im Ich statt, nicht im Du.
In mir will etwas heilen und frei sein. Ob ich „Täter“ bin oder „Opfer“.

Es geht um Selbstermächtigung. Sowohl das (Er-)Lösen von Schuld als auch der Weg zur inneren Freiheit und zum inneren Heil-Sein führt über die eigene innere Veränderung und Transformation. Erlösung und Heilung ist ein sehr persönlicher und individueller Prozess, der möglichst unabhängig vom äußeren „Täter/Opfer“ erfolgt. Denn nur so löse ich die Abhängigkeit von ihm.

Ich nehme meine Macht wieder zu mir und bin frei.

Wie das ohne Vergebung gehen kann?
-> weiterlesen im Artikel „Verzicht auf Vergebung“

Herzliche Grüße
Anja Trude

Foto:©markzfilter, pixabay