Das unbekannte Neue wagen

„Und es kam der Tag, da das Risiko, in der Knospe zu verharren,
schmerzlicher wurde als das Risiko zu blühen.“
(Anais Nin)

Kennst du dieses Gefühl?
Diesen Moment zwischen den beiden Möglichkeiten, die eigentlich keine Möglichkeiten mehr sind, weil das Alte schon hinter dir liegt und das Neue schon da ist und auf dich wartet.
Du denkst, du könntest vielleicht noch verharren und hättest noch die Wahl. Aber eigentlich weißt du schon, dass dieser Schritt unausweichlich ist. Der alte Zustand kann nicht mehr unendlich erhalten werden, der neue Zustand wartet schon und ist bereit.
Aber etwas lässt dich zögern.

Und dieses Phänomen tritt sogar bei Situationen auf, die man sich selbst voller Freude gewählt hat und auf die man sich freut.

Mir fällt gerade das Bild eines Kindes ein, das im Schwimmbad das erste Mal vom 5-m-Turm ins Wasser springen möchte.
So oft hat es den älteren Kindern zugeschaut und sich vorgestellt, wie es sein würde, die Stufen hochzuklettern, dort oben zu stehen, und dann die Arme auszubreiten und zu springen:
der köstliche Moment des Fluges, um dann geschmeidig und elegant ins Wasser einzutauchen.

Endlich ist der Tag gekommen, an dem das Kind ebenfalls auf den 5er darf.
Voller Vorfreude erklimmt es Stufe um Stufe, immer höher. Und dann steht es dort hoch oben auf der Plattform und überblickt das Schwimmbad.
Von oben wirkt der 5er viel höher als von unten. Wie kann das sein?
Es schaut hinunter auf das Wasser. Das Wasser ist so klar, dass es von oben fast unsichtbar ist. Durch die Tiefe des Wassers wirkt der eigene Standpunkt plötzlich noch viel höher.

Und da ist es plötzlich, dieses Zögern:
einerseits die Sehnsucht und Vorfreude, andererseits aber auch Angst und der Wunsch nach Umkehr.
Und gleichzeitig das Wissen, eigentlich gibt es kein zurück.
Ja natürlich, man kann noch Ewigkeiten dort oben stehen und warten. Man kann sogar die Treppe wieder hinabsteigen.
Aber selbst dann weiß man, dass es keine Umkehr mehr gibt. Der 5er wartet.
Von jetzt an wird er auf dich warten. Der 5er in dir wartet. Wartet auf dich.
Vielleicht wirst du noch einige Male hinaufklettern, zögern und wieder hinabsteigen.

Aber irgendwann kommt er – der Tag, an dem es sich ändert.
Wieder stehst du auf dem 5er, vorne an der Kante. Und wieder sind da die Ängste und der Wunsch nach Umkehr. Alles wie immer.
Aber nein, etwas ist anders. Unmerklich hat sich etwas verändert:
Dieses Mal ist der Wunsch zu springen fast unerträglich. Dieser Wunsch ist wie ein Druck, wie ein Schmerz, eine große innere Spannung.
Und plötzlich ist diese innere Spannung größer als die große Angst.

Und  dann?

Möglicherweise:
Die Geräusche um dich herum scheinen leiser zu werden: es ist, als würde jemand den Ton immer leiser und leiser drehen. Dann verändert sich auch dein Sehsinn: die Umgebung verschwimmt, die Randbereiche werden zunehmend unscharf, nur in der Mitte bleibt ein klares Zentrum, gestochen scharf. Du schaust auf das Wasser und siehst den Punkt, wo du eintauchen wirst.
Und dann verschwindet auch das Denken. Du bist ohne Absicht, ohne Wollen, ohne Angst, ohne Wunsch, ganz präsent und frei in diesem Moment.
Und genau in diesem Moment passiert es wie von selbst:
deine Füße stoßen sich ohne dein Zutun vom Rand ab

und du fliegst,

ganz kurz nur – und doch unendlich lang.
Während die Zeit außen weitergeht
ist dieser Moment für dich unendlich gedehnt.
Für die Dauer eines Wimpernschlags ist da Stille und Ruhe
und ein Moment völligen Friedens, schwerelos, körperlos.

Dann tauchst du ein ins Wasser.
Es ist wie ein Schock, plötzlich den Körper wieder so bewusst wahrzunehmen, umströmt und umschlossen vom Wasser, 1000 Sinneseindrücke und Bilder strömen auf dich ein.
Zuerst weißt du nicht, wo oben und unten ist. Aber dein Körper bahnt sich von selbst den Weg des Tauchens. Du tauchst immer tiefer, gedämpfte Geräusche, das Wasser wird in der Tiefe dunkler und kühler, du kommst dem Grund immer näher.
Spätestens wenn die Luft knapper wird, entscheidest du dich, die Richtung zu ändern und der Helligkeit entgegen zu schwimmen, voller Vorfreude auf das Licht, die Atemluft und den festen Boden unter den Füßen.

Du tauchst durch die Wasseroberfläche und mit einem Schlag dringen alle Geräusche wieder in voller Lautstärke auf dich ein, und du siehst wieder deine gesamte Umgebung, die Menschen, das Wasser, den Sprungturm, den Beckenrand.
Wenn du dann das Wasser verlässt und wieder festen Boden unter den Füßen hast, setzen die Glücksgefühle ein über das, was du erlebt hast, ruhige Freude und Zufriedenheit und die Gewissheit, etwas für dich Wichtiges und Richtiges erlebt zu haben.
Diese Fülle der (Sinnes-)Eindrücke und Erfahrungen wirkt noch nach und füllt dich eine Weile vollständig aus.

Dann spürst du, wie es sich verändert. Du versuchst, dieses Erlebnis und das besondere Glücksgefühl zu halten und in dir zu bewahren, aber es wird blasser und verliert zunehmend an Kraft.
Je blasser es wird, desto mehr nimmt die Sehnsucht zu.
Und dann wirst du vielleicht wieder auf den 5er klettern und springen. Und vielleicht wird es für dich wieder kribbelig sein und vielleicht auch wieder besonders, wenn du dann springst.
Aber es wird anders sein, als beim ersten Mal.
Wenn du es öfter wiederholst, wirst du immer gelassener werden und es wird für dich irgendwann „normal“ und fast selbstverständlich sein. Und irgendwann ist es für dich nichts Besonderes mehr.
Dieser 5er ist es nicht (mehr), der für dich richtig und wichtig ist.

Und auch wenn es scheinbar so gemütlich und verlockend ist, wenn alles ruhig seinen Gang geht,
so ahnst oder weißt du tief in dir: Das Leben ist Veränderung.
Es gibt keinen Stillstand, kein Verharren, die nächste Herausforderung wartet schon auf dich.
Es geht jetzt um andere Themen, die noch auf dich warten, sowohl im Außen als auch im Innen.

„Und es kam der Tag, da das Risiko, in der Knospe zu verharren,
schmerzlicher wurde als das Risiko zu blühen.“

Herzliche Grüße
Anja Trude

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