Ein natürlicher Umgang mit Sterben und Tod

In unserer „modernen Welt“ scheinen viele Menschen das Sterben und den Tod aus ihrer Lebensrealität und aus ihrem Bewusstsein ausschließen zu wollen, sie möchten am liebsten nichts damit zu tun haben. Gespräche über Sterben und Tod werden häufig vermieden, weil sie als unangenehm und bedrohlich empfunden werden. Und wenn der Tod dann irgendwann ganz unvermeidbar dem eigenen Leben oder dem engeren Umfeld nahe kommt, trifft uns die intensive Begegnung mit dem Sterben und dem Tod meist völlig unvorbereitet.

Es braucht etwas Erfahrung, „Übung“ und tragfähige Rituale, damit der Tod – ähnlich der Geburt – als ein besonderer Moment und selbstverständlicher Teil des Lebens wahr- und angenommen werden kann. Und es ist leichter, einen natürlichen, offenen und angstfreien Umgang mit den Themen Sterben und Tod für sich zu finden, wenn wir Gelegenheit hatten, möglichst schon als Kinder und Jugendliche von erfahrenen Menschen ganz selbstverständlich auch an diese Phasen des Lebens und des Seins herangeführt zu werden.

Für viele Kinder und Jugendliche bleibt der Tod ganz unwirklich, abstrakt und unbegreiflich, wenn sie an den Ritualen und Gefühlen bei Todesfällen im eigenen Umfeld nicht angemessen einbezogen werden. Alle Menschen, auch und besonders Kinder, lernen am einfachsten durch Wahrnehmen und Begreifen, im wahrsten Sinne des Wortes. Was wir mit unseren Sinnen (für) wahr(-)nehmen und mit den Händen berühren und (be-)greifen, können wir viel leichter erfassen, verarbeiten und verstehen.

In ländlichen Regionen erfolgt manchmal noch ein viel direkterer und bewussterer Umgang mit dem Sterben und dem Tod. Oft erleben die Kinder schon von klein auf den Tod von Nutz- und Haustieren und machen so erste begreifbare Erfahrungen mit dem Tod. Und wenn ein Dorfbewohner stirbt, nehmen auch die Kinder daran ganz selbstverständlich Anteil. Sie erleben die besondere Stimmung in dem als Abschiedsraum umfunktionierten Wohn- oder Schlafzimmer des Verstorbenen: ein Raum im Kerzenlicht, der Verstorbene vielleicht festlich gekleidet und offen aufgebahrt oder im Bett liegend. Alle Dorfbewohner kommen, um Abschied zu nehmen. Durch den Raum zieht ein Strom von Menschen jeden Alters. Nacheinander gehen die Menschen zu dem Toten, verweilen an seiner Seite, schauen ihn an, sprechen zu ihm oder berühren ihn. Auch die Kleinkinder, Schulkinder und Jugendlichen des Dorfes sind mit dabei, nähern sich unbefangen oder feierlich dem Toten und verabschieden sich von ihm.

Es sind beständig Menschen im Raum, ein Kommen und Gehen, leise Gespräche, vereinzeltes leises Weinen und trotz der Traurigkeit über allem eine große Feierlichkeit.

Nach dem persönlichen Abschied von der Verstorbenen verweilen die meisten Gäste noch etwas im Abschiedszimmer, um sich anschließend in der Küche einzufinden, wo zubereitete und mitgebrachte Speisen miteinander geteilt werden, während die Menschen Gespräche über den Verstorbenen oder alltägliche Dinge des Lebens führen.

Ganz selbstverständlich erscheint der Umgang der Dorfbewohner mit dem Toten und dem Tod.

Ich wünsche mir, auch für uns „Stadtmenschen“ könne eine natürliche Selbstverständlichkeit im Umgang mit Sterben, Tod und Trauer wieder möglich und allgemein verbreitet sein.

Wenn so selbstverständlich mit Abschied, Sterben, Tod und Trauer umgegangen wird, kann der Tod das sein was er ist: ein selbstverständlicher Teil des Lebens.

Mir scheint, für viele Menschen gibt es gerade im Umgang mit Sterben, Tod und Trauer noch große Unsicherheiten und viele Ängste über vermeintliche (oder tatsächliche) Erwartungen. „Wie soll ich mich verhalten, im Angesicht von Sterben, Trauer und Tod? Was soll ich tun, was soll ich lassen?“

Vielleicht haben manche Menschen auch Sorge, dem Sterbenden, dem Toten, dem Trauernden oder sich selbst (zu) nahe zu kommen. Aus dieser Verkrampfung entsteht neue Unsicherheit und diese entfernt einen noch mehr vom selbstverständlichen und natürlichen Umgang mit dem Sterben und dem Tod.

Wäre es nicht schön, (wieder) einen natürlichen Umgang mit Abschied, Sterben, Tod und Trauer zu finden, ihnen einen selbstverständlichen Platz in unserem Leben zu geben und dem Sterben und dem Tod genauso offen und erwartungsvoll zu begegnen wie der Geburt und dem Leben?

Wir brauchen uns „nur“ zu gestatten, immer wieder neu unsere ganz individuelle Form des Umgangs mit den Themen Tod und Sterben zu suchen und zu finden.

Wenn jeder sich selbst gestattet, auf sein Herz zu hören, möglichst weich und offen die eigenen Gefühle und Bedürfnisse wahrzunehmen und mit sich selbst in Kontakt zu sein, dann können wir offenen Herzens und in unserer ganz individuellen Art und Weise auch mit dem Gegenüber (dem Sterbenden, dem Toten, dem Trauernden) in Kontakt treten; ob mit Worten, mit Berührungen, mit Schweigen, mit vertrauten oder neuen Ritualen oder ganz anders.

Und wenn wir in uns spüren, ahnen, glauben oder wissen, dass der Tod – so wie auch die Geburt – ein Übergang ist, eine Tür zu einem neuen Raum, dann kann das Sterben und der Tod wieder ein selbstverständlicher Teil des Lebens sein. Dann können wir beginnen, den Tod anzunehmen und mit ihm zu leben, mit all dem, was dazu gehört: mit Normalität und Besonderheit, mit schweren und mit leichten Tagen, mit Trauer und Freude, mit Weinen und Lachen, mit dunklen und mit lichten Tagen.

Und mit der Gewissheit: Jedem Ende wohnt ein Anfang inne, jedem Abschied ein Neubeginn.

Diese Ruhe und Weite, diese Gewissheit empfinde ich bei Hermann Hesses so wundervollem Gedicht:

Stufen

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden…
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

(Hermann Hesse)

Foto:©wibDawson, pixabay

Von Herzen
Anja Trude