Seit einiger Zeit mehren sich die Artikel und Bücher über hochsensible oder hochsensitive Menschen.
Einige von uns glauben möglicherweise, dass sie dieses Thema nichts angeht, nicht betrifft und nicht interessiert. Andere reagieren eventuell auch genervt oder ablehnend, weil sie denken, dies sei wieder so eine neue Esoterik-Erfindung oder Ausrede, mit deren Hilfe sich einige Menschen vor Belastungen und Verantwortung drücken wollen.
Oder vielleicht sind einige von uns auch erleichtert, weil sie hinter dem Begriff „hochsensitiv“ etwas spüren, erkennen oder vermuten, das erklärt, warum sie selbst oder bestimmte Menschen in ihrem Umfeld feinfühliger, sensibler oder empfindsamer reagieren als andere Menschen.
Hochsensitiv, hochsensibel, gibt es das wirklich? Ist das eine Eigenart oder ein Charaktermerkmal, ein anerzogenes oder angewöhntes Verhalten? Gibt es – in Bezug auf die Empfindsamkeit – verschiedene „Grundausstattungen“ bei uns Menschen? Sind einige „Modelle“ einfach „bauartbedingt“ deutlich empfindsamer und empfindlicher sind als andere?
Ist das ein Mangel und eine ungünstige Überempfindlichkeit?
Oder ist es eine Qualität und eine wichtige Eigenschaft?
Stellen wir uns vor, jeder Mensch wäre eine Waage. Und nehmen wir an, jede Waage ist geeicht und misst genau richtig. Dann müssten doch alle Waagen das Gleiche anzeigen und zum gleichen Ergebnis kommen, oder?
Im Prinzip schon. Aber nur, wenn alle Waagen für den gleichen Messbereich vorgesehen sind.
Wenn eine Waage selbst (noch) nicht weiß, für welchen Messbereich sie vorgesehen ist oder sich dagegen wehrt, einem bestimmten Messbereich zugeordnet zu werden, könnte sie sich immer wieder in der für sie falschen Umgebung aufhalten. Immer wenn irgendwo eine Waage gesucht wird, ist diese Waage sofort da und bereit, ihre Aufgabe zu übernehmen.
Irgendwann landet sie in einem Badezimmer und bekommt Besuch von einem Menschen, der sein Gewicht ermitteln möchte. Entsetzt weicht die Waage zurück, weil sie weiß, sie wird ernsthaften Schaden nehmen, wenn der Mensch mit seinem Gewicht auf sie tritt. Daraufhin sucht sie sich als neuen Arbeitsplatz einen Marktstand, an dem Kartoffeln verkauft werden. Sofort merkt die Waage, dass sie auch hier nicht richtig ist und unter den Kartoffeln begraben werden würde. Also zieht sie weiter und landet in einer Küche, wo Mehl und Zucker zum Backen abgewogen werden sollen. Die Waage weiß, dass sie das für kleine Mengen gut kann, aber aufpassen muss, dass es ihr auch hier nicht zu schwer wird. Auch Kuchenbacken scheint nicht der optimale Einsatzbereich für sie zu sein.
Zwischenzeitlich hat die Waage viele verschiedene Waage-Kollegen kennengelernt, die sich in dem jeweiligen Bereich wohl fühlen und ganz leicht und souverän Menschen, Kartoffeln oder Zucker wiegen können. Und sie hat bemerkt, dass die anderen Waagen den Kopf schütteln und tuscheln, wenn sie wieder einmal die Flucht ergreift, wenn es für sie zu schwer zu werden droht und sie nach wie vor auf der Suche nach ihrem optimalen Einsatzbereich ist. Kopfschüttelnd und abwertend nennen die Anderen sie „Sensibelchen“, „Mimose“, „Weichei“ oder „überempfindlich“.
Irgendwann glaubt die Waage selbst, dass etwas mit ihr nicht stimmt und geht zu einem Profi, einen Fachmann für die Eichung von Waagen.
„Mit mir stimmt etwas nicht, bitte überprüfe, ob ich richtig geeicht bin“, sagt die Waage. Der Profi schaut sich die Waage genau an, nimmt sein Spezialwerkzeug, verschiedene Gewichte und überprüft alles sehr gründlich. „Mit dir ist alles in Ordnung. Du bist 1A geeicht und optimal funktionsfähig“, stellt der Profi fest. „Das kann nicht sein, du musst dich irren“, antwortet die Waage. „Ich war im Badezimmer und bin weggerannt, als ein Mensch sich wiegen wollte. Auch am Kartoffelstand bin ich sofort geflüchtet. Und selbst beim Kuchenbacken musste ich immer sehr aufpassen, dass es mir nicht zu schwer wurde und war dort meist an der Grenze meiner Belastbarkeit“, klagt die Waage.
Der Profi zieht erstaunt die Stirn in Falten und sagt „Aber Waage, was machst du denn? Du warst ja bisher immer in der falschen Umgebung. Du bist doch für einen ganz anderen Messbereich und eine andere Umgebung gemacht. Du bist eine Briefwaage!“
Nach einer Zeit des Zweifels stellt die Waage fest, dass es tatsächlich stimmt. Sie ist tatsächlich eine Briefwaage. Es fällt ihr leicht, Briefe und andere leichte Sachen präzise zu wiegen und sie fühlt sich wohl und richtig an ihrem neuen Platz. Die Menschen gehen vorsichtig mit ihr um, wertschätzen ihre feine Skala und die grammgenauen Angaben und freuen sich über ihre verlässliche Arbeit.
Bei der nächsten Begegnung mit den Waage-Kollegen ist alles anders:
Seitdem alle wissen, dass die Waage eine Briefwaage ist, sehen die Haushalts-, Kartoffel- und Personenwaagen die Briefwaage mit anderen Augen.
Allen ist klar geworden, dass die Briefwaage einfach zu einem anderen Fachbereich gehört. Und natürlich ist es weder besser noch schlechter, eine Brief-, Haushalts- oder Personenwaage zu sein. Jede Waage ist für bestimmte Bereiche optimal geeignet, für einige Bereiche grenzwertig nutzbar und für viele andere Bereich völlig ungeeignet.
Es braucht einfach nur für den jeweiligen Messbereich den dafür zuständigen und geeigneten Spezialisten. Dann geht es einerseits allen Waagen gut und andererseits werden so alle Messbereiche ideal abgedeckt.
Bei dem Treffen fühlt sich auch die Briefwaage jetzt richtig wohl. Manchmal wundert sie sich, dass sie nicht eher erkannt hat, welches ihr Messbereich und ihre Aufgabe ist. Aber eigentlich ist das auch kein Wunder, es gibt nun einmal viel mehr Waage-Kollegen für den Bereich Personen oder Haushalt als für den Bereich Briefe. Daher ist sie meist von Kollegen anderer Fachgebiete umgeben, deren Gespräche sie nicht immer nachvollziehen kann. Um so größer ist dann ihre Freude, wenn sie in der Masse ab und an auf eine andere Briefwaage stößt und mit dieser dann fachsimpeln und sich endlich ganz verstanden fühlen kann. Diese seltenen Momente genießt die Briefwaage sehr.
Und derart verstanden und aufgetankt kann sie auch den Kollegen der anderen Fachgebiete wieder souveräner und offener begegnen.
Im Gespräch miteinander stellen alle Waagen fest, dass es oft auf den ersten Blick kaum zu erkennen ist, für welchen Messbereich eine Waage vorgesehen ist. Und besonders schwierig wird es, wenn eine Waage es selbst auch (noch) nicht weiß und sich deshalb in einer für sie ungeeigneten Umgebung aufhält.
In diesen Fällen kann es manchmal passieren, dass jemand einen Brief auf einer Personenwaage oder einen Sack Kartoffeln auf einer Briefwaage abwiegen möchte und sich dann wundert oder ärgert, warum die Waage nicht richtig anzeigt.
Manchmal hilft dann der Waage-Spezialist und kann allen sagen, für welchen Bereich die jeweilige Waage geeignet und geeicht ist.
Aber die Waagen, die dafür offen sind, entwickeln mit der Zeit und durch Erfahrung selbst ein Gespür für sich und andere und erkennen dann einerseits immer besser, für welchen Bereich sie selbst am besten geeignet sind und spüren andererseits schneller, dass es wahrscheinlich nur am falschen Einsatzbereich liegt, wenn eine bestimmte Waage nicht zuverlässig anzeigt. So wächst das Verständnis für sich und andere Waagen und die Wertschätzung für die verschiedensten Einsatz- und Messbereiche. Und gleichzeitig wird ihnen immer bewusster, dass es trotz der Verschiedenheit etwas gibt, was sie alle verbindet: wir alles gehören zu der Familie der Waagen.
Ich wünsche dir Ausgewogenheit und Balance,
herzliche Grüße
Anja Trude
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