Karneval einmal anders – Das Wagnis, sich zu zeigen

Karneval einmal anders

Gehörst du zu den Karnevals-Freunden, den -Neutralen oder den Karnevals-Ablehnern?

Als junge Frau liebte ich es, mich zum Fasching zu verkleiden. Ich fand es faszinierend, in eine andere Rolle schlüpfen zu können und diese bewusst und äußerlich zur Schau zu stellen. Aber heute spüre ich keinerlei Bedürfnis mehr, mich zu verkleiden.
Im Gegenteil, mir kommt es so vor, als wäre ich seit Jahren auf dem entgegengesetzten Weg: statt mich zu verkleiden, versuche ich, im Alltag alle inneren und äußeren Masken und Verkleidungen zunehmend abzulegen, Schicht um Schicht, um immer mehr diejenige zu erkennen und zu zeigen, die ich eigentlich bin.

Mir kommt es so vor, als würden die meisten von uns ein Leben lang verkleidet durch die Welt gehen. Das „Kostüm“ hängt von der jeweiligen Rolle ab, die wir uns gewählt haben oder in die wir unbewusst irgendwie hineingeschlittert sind. Ob Berufskleidung, Moderichtung, soziale Schicht, politische Gesinnung, die regionale und ethnische Zugehörigkeit; vieles kann man am „Kostüm“ (Kleidung, Frisur und Accessoires) ablesen.

Aber nicht nur äußerlich, auch innerlich geben wir uns meist maskiert und in Verkleidung. Auch hier spielen wir verschiedene Rollen und leben und zeigen nur die Aspekte und Eigenschaften, die uns oder unserer Umwelt angemessen erscheinen.

Was ist der Reiz des Maskenballs oder Karnevals? Was reizt so viele Menschen, die alltägliche (Ver-)Kleidung durch Karnevals-Kostüme zu ersetzen?

Vielleicht ist der Karneval deshalb so beliebt, weil er uns eine gute Möglichkeit gibt, die alltäglichen Rollen hinter uns zu lassen und – getarnt über eine Verkleidung – ganz andere Aspekte von uns zu zeigen und auszuprobieren: einmal etwas anderes zu sein, einmal in eine andere Haut zu schlüpfen. Es kann eine genussvolle Freiheit und ein seltenes Vergnügen sein. Der Büroangestellte legt den dezenten grauen Anzug ab und wird mit roter Nase, bunt geschminkt zum farbenfrohen auffälligen blödsinn-machenden Clown. Und für die höfliche adrette Sekretärin kann es eine Befreiung sein, ihre übliche Berufskleidung namens „Kostüm“ (!) abzulegen. Stattdessen verwandelt sie sich in eine magisch-machtvolle hässliche Hexe oder eine gefährliche ungezähmte unberechenbare Wildkatze.

In dieser anderen Haut, in dieser Verkleidung, können zum Karneval dann die zu der gewählten Verkleidung passenden Eigenschaften ausgiebig gelebt werden, ohne dass dies zu Befremden und Ablehnung im Umfeld führt.

Aber reicht das? Reicht uns diese 5. Jahreszeit, diese eine Faschingsfeier, dieser Karnevalsumzug?

Die im Alltag weniger gelebten und geliebten Eigenschaften und Anteile in uns fordern ihren Raum, möchten wahrgenommen, gesehen und wertgeschätzt werden. Sie rufen dir zu: „Schau hin, auch das bist du. Ich bin du. Ich bin ein Teil von dir und gehöre dazu.“

Und ja, viele Menschen spüren in sich tatsächlich die Sehnsucht danach, von dem oder den Anderen mit ihrem ganzen Sein, mit allen Anteilen angenommen zu sein „so wie ich bin“. Aber gleichzeitig tun sie einiges, um sich zu verstecken und zu verkleiden. Da wird äußerlich gepudert, gemalt, getrimmt, gestylt und die Kleidung mit Bedacht gewählt. Und auch innerlich legen wir uns an die Leine, passen auf, bestimmte Aspekte von uns zu verbergen und zu überlegen „was ich wo sagen kann“. Wir tun alles, um äußerlich in das Umfeld zu passen und uns so zu geben, dass wir als zugehörig erkannt werden und in dieser Gruppe nicht aus dem Rahmen fallen.

Aber wie soll der Andere mich dann erkennen und annehmen können „wie ich bin“?
Dazu müsste ich mich zuerst einmal demaskieren und wirklich zeigen.

Und das scheint ein Wagnis, denn Ängste und Zweifel entwerfen Schreckens-Szenarien. Was werde ich sehen, wenn ich nichts mehr verhülle? Was werden die Anderen sehen, wenn ich mich wirklich zeige? Werden sie mich noch mögen? Werde ich mich noch mögen?

Hast du dich schon einmal innerlich ungeschminkt und innerlich nackt gesehen und wirklich betrachtet? Und? Was hast du gesehen? Wie war das für dich, Freude oder Erschrecken? Hast du deine Schönheit und Einzigartigkeit gesehen? Oder blieb dein Blick an (vermeintlichen) Unzulänglichkeiten haften?

Wie wäre es, die Karnevalszeit einmal umzudrehen und bewusst die Alltagsmasken und -verkleidungen abzulegen, sich zu enthüllen und zu demaskieren.

Oder anders gesagt, sich zu entscheiden:

Dieses Jahr zum Karneval gehe ich mal als „Ich“.

Mut gehört dazu.

Und mal sehen, ob die Anderen dich erkennen…

Herzliche Grüße
Anja Trude

Foto:©birder82, pixabay