Tag der deutschen Einheit – über Einssein und Einheit

Es scheint, das historische und besondere Ereignis der Grenzöffnung, des Mauerfalls und der Wiedervereinigung ist im Alltag kaum noch wahrnehmbar. Die Aufregung und die Unglaublichkeit der Ereignisse im Herbst 1989 sind schon deutlich verblasst im Laufe der Zeit.

Wir, die wir mit der innerdeutschen Mauer und Grenze groß geworden sind, haben uns mittlerweile zu (mehr oder weniger) reifen Erwachsenen entwickelt. Für die heutigen Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist die damalige Situation gar nicht mehr greifbar. Ihnen geht es vielleicht so wie uns, wenn unsere Eltern vom Krieg erzählt haben: irgendwie bedrohlich und schlimm, aber scheinbar weit weg von der eigenen Lebensrealität.

Ich bin in Wolfsburg, also „im Westen“, geboren und aufgewachsen und hatte Verwandte in West-Berlin und in der DDR. Dadurch war das geteilte Deutschland, die Trennung, die Grenze, die Mauer immer ein sehr deutlich wahrnehmbarer Teil meiner Lebensrealität.

Besonders deutlich wahrnehmbar war die Trennung für mich immer während der Reisen nach West-Berlin und in die DDR. Diese Reisen habe ich ungezählte Male erlebt, als Kleinkind, als Schulkind, als Jugendliche und als junge Erwachsene, doch es stellte sich bei mir dabei nie das Gefühl einer gelassenen Normalität ein.

Durch die vielen kleinen und großen Ereignisse und Besonderheiten des langen Grenzprozederes am Grenzübergang baute sich bei uns Reisenden jedes Mal eine gedrückte Stimmung und Anspannung auf, die auch während der mehrstündigen Autofahrt bis zur Ankunft in Berlin bestehen blieb.

Bei Reisen in die DDR war die Einreise-Prozedur noch angespannter und aufwändiger und hinterließ den Eindruck, als würden wir in einen Hochsicherheitstrakt einreisen.

Dieses bedrohliche und angespannte Gefühl der Fremdheit bei der Einreise in die DDR veränderte sich immer dann, wenn wir bei unseren Verwandten und Freuden in Ost-Deutschland angekommen waren: wenn wir zusammen waren, stand nicht das Trennende im Vordergrund sondern die zwischenmenschliche Ebene, das Verbindende.

Erst bei der Verabschiedung trat das Trennende dann wieder in den Vordergrund, verbunden mit Traurigkeit und Schmerz, dass es immer bei einseitigen Besuchen bleiben würde und nicht wissend, wann der nächste Besuch möglich wäre.

Als ich im November 1989 abends in den Nachrichten die ersten Bilder der Menschen sah, die über die Grenze strömten, konnte ich zunächst nicht glauben, dass dies tatsächlich so geschieht. Das konnte einfach nicht sein. Es war unvorstellbar, dass nach all den Jahren der Trennung und all den bedrückenden Erfahrungen an den Grenzübergängen plötzlich die gleichen Grenzstationen zu einem Ort der Freude und des Volksauflaufes wurden.

Falls die Bilder im Fernsehen wirklich stimmten, wollten wir direkt daran teilhaben. Kurzentschlossen fuhren wir noch spätabends zum nächsten Grenzübergang.

Dort erlebten wir etwas völlig Unwirkliches und Einmaliges:
Auf der Westseite hatten sich hunderte Menschen eingefunden, standen rechts und links der Straße und begrüßten jubelnd, winkend, zutiefst berührt, fassungslos und voller Freude die Menge der Menschen, die aus dem Osten in einer nicht enden wollenden Schlange aus Trabis im Schritttempo an uns vorbei fuhren und uns aus runtergekurbelten Scheiben zuwinkten. In allen Gesichtern tiefe Freude, Glück und Berührtheit.

Wir teilten diese unbeschreibliche Freude miteinander, mit den unbekannten Menschen, die mit uns dicht an dicht am Straßenrand standen und mit den unbekannten Menschen in den dicht an dicht vorbeituckernden Autos.

In diesem Moment fielen – im wahrsten Sinne des Wortes – die Grenzen, die äußeren physischen Grenzen und die Grenzen in unseren Köpfen. In diesem Moment gab es nichts Trennendes mehr. Hier begegneten sich nicht Fremde, sondern „unbekannte Freunde“. Wir schauten uns gegenseitig in die Augen und Gesichter und sahen dabei nichts als Freude, Rührung, Zuneigung und einen „unbekannten Freund“.

Es war ein unbeschreiblich großes und starkes Gefühl der Verbundenheit spürbar, wie eine allumfassende und kollektive Verbindung von Herz zu Herz. Und in der Begegnung von Herz zu Herz gibt es keine Grenzen und nichts Trennendes mehr.

Irgendwann tauchten wir dann wieder auf und fuhren nach Hause. Wir waren wie benebelt und trunken von dem unglaublichen Gefühl der Verbundenheit und Freude. Und diese Erfahrung war so tief und besonders, dass wir später nicht mehr mit Sicherheit sagen konnten, ob wir das wirklich erlebt hatten.

Erst viele Jahre später habe ich verstanden, was ich an diesem Abend erlebt und wahrgenommen habe. Damals, in diesen Stunden an der Grenze, unter all den freudetrunkenen, herzoffenen Menschen aus Ost und West erlebte ich das gemeinschaftliche Gefühl der Verbundenheit, der Freude, der Liebe, der Gewissheit, der Hingabe überwältigend und umfassend. Das besondere Erlebnis einer so tiefen Verbundenheit und Einheit mit vielen verschiedenen und unbekannten Menschen, dass nichts Trennendes mehr wahrnehmbar ist.

Und über dieses Erlebnis ereignete sich gleichzeitig in mir eine sehr besondere und tiefe spirituelle Erfahrung, das Eintauchen in das „Einheitsbewusstsein“. Im Auflösen der äußeren und inneren Grenzen, alles ist eins, gibt kein Ich und kein Du mehr, kein Ost und kein West, kein Arm und kein Reich, kein Wir und kein Ihr. Alles ist eins: eine riesige unbeschreibliche Erfahrung. Ein zeitloser ewiger Moment des Einsseins mit allem was ist.

Später wurde mir bewusst, dass Trennung nie ein Endzustand ist. Trennung ist immer ein Schritt auf dem Weg zur Erfahrung der Einheit. Sobald wir auf unseren Lebenswegen Trennung fühlen oder wahrnehmen brauchen wir uns „nur“ zu öffnen und die (inneren) Grenzen aufzuheben. Sofort wird sich die Trennung auflösen und wir können erkennen, dass wir verbunden sind, in Liebe und Einheit. Und daraus kann dann der nächste Schritt, die nächste Erfahrung und Erkenntnis erfolgen.

Unser wahrer eigentlicher Zustand ist Einheit und Einssein mit allem was ist.

Ich wünsche dir und euch bewegende und berührende Erfahrungen mit fallenden Grenzen der Trennung und der daraus entstehenden Erfahrung der Verbundenheit, der Einheit, des Einsseins.

Von Herz zu Herz
Anja Trude

Foto: schablonette, pixabay